Dienstag, August 29, 2006

G.G. – EIN PURISTISCHER GEWOHNHEITSMENSCH


Der Sonderling als Kassenmagnet: Glenn Gould
Zum 20. Todestag des Pianisten, der am 4. Oktober 1982 starb
Ein Portrait von Max Nyffeler



»Am 5. Oktober wird sein Leichnam im Humphrey Funeral Home aufgebahrt, am 15. findet in der anglikanischen Church of St. Paul die Gedenkfeier statt, an der 3000 Personen teilnehmen, darunter der kanadische Premierminister sowie der Anführer der Oppositionspartei: Es wird die Old Hundredth Hymn, Glenn Goulds Lieblingshymne, gesungen, die berühmte Sopranistin Maureen Forrester singt »Have Mercy« aus der Matthäus-Passion, es folgen etliche religiöse Gesänge und Gebete. Dann tritt Stille ein: Zum ersten Mal ertönt öffentlich die Aria der neuen Goldberg-Einspielung und erfüllt die Kirche. Die Zeremonie wird mit einer Stunde Verzögerung von CBC übertragen. Glenn Gould wird in der Nähe seiner Mutter auf dem Mount Pleasant Cemetery beigesetzt.«

Die Abschiedfeier, über die hier ein Chronist berichtet, war trotz des riesigen Publikumsandrangs vermutlich ziemlich schlicht gehalten. Sie beschränkte sich auf die notwendigen kirchlichen Rituale und ließ der Musik, die dem Künstler geistige Heimat war, gebührend Raum. Mittendrin in dieser vom Radio übertragenen Totenfeier die öffentliche Schallplatten-Premiere der letzten Aufnahme. Welcher PR-Mann bekäme da nicht leuchtende Augen! Product Placement nach allen Regeln der Kunst. Eine unbezahlte Bandenwerbung, ein Image- und Identifikationstransfer wie aus dem Bilderbuch. Durch die Symbolkraft des Anlasses wird dieser zweiten Einspielung der Goldberg-Variationen das Etikett »musikalisches Vermächtnis« bleibend aufgeprägt. Bereits im darauf folgenden Jahr – wer hätte das gedacht – erhält die Aufnahme den Grammy Award.

Eine postume Medienkarriere

Selten wurde auf so schamlose Weise Reklame gemacht für ein Produkt, und selten ist der Startschuss für den Nachruhm eines Musikers so präzis lokalisierbar wie im Falle Glenn Goulds. Mit seinem Tod beginnt seine zweite, nun vollends virtuelle Medienexistenz, die seine erste in punkto Erfolg weit in den Schatten stellt. Sie leitet sich ganz folgerichtig aus seiner Produktionsweise ab.

1964, zweiunddreißigjährig auf einem Höhepunkt seines Ruhms, zog sich Gould vollständig vom Konzertleben zurück und produzierte von da an bis zu seinem Tod ausschließlich im Studio für die Konserve. Er erreichte damit weltweit eine Hörerschaft, die sowohl zahlenmäßig als auch von ihrer Identifikationsbereitschaft her den Mangel an Konzertpublikum vermutlich mehr als wett machte. Und wie die breite Öffentlichkeit den menschenscheuen Pianisten nur noch über seine Schallplatten-, Fernseh- und Rundfunkproduktionen kannte, so stand er auch mit dem engeren Kreis seiner Freunde und Mitarbeiter, von alltäglichen Notwendigkeiten abgesehen, nur noch per Telefon in Kontakt. Nur wenige hatten Zutritt zu seinem Appartement im Hotel Inn on the Park am Stadtrand von Toronto, wo er wohnte und sich ein Heimstudio eingerichtet hatte. Auch Interviews gab er nur am Telefon. Seine monatliche Telefonrechnung war vierstellig.

Über Glenn Goulds Telefonmanie und ihre Hintergründe wurden viele Vermutungen angestellt, und jeder, der ihn einmal am andern Ende der Leitung hatte, spinnt den Faden der Erinnerung anders weiter. Tim Page, der Herausgeber seiner Aufsätze, charakterisierte ihn als eine Art Eremit, der der spontanste und fröhlichste Telefonkumpan war, den man sich vorstellen kann. Er war ein zutiefst konservativer Einsiedler, der sich einbildete, Sozialist zu sein; er war ein Mann, der nicht in die Kirche ging, aber seine langen Nächte damit verbrachte, Theologie und Philosophie zu studieren.

Susan Kocsis, bei der Schallplattenfirma CBS in seinen letzten Lebensjahren für die Promotion zuständig, hat andere Erinnerungen:

»Er rief mich jeden Tag, oder jede Nacht, aus dem ›Inn‹ an. Wir kamen uns während langer Gespräche näher. Eine ungewöhnliche Art, sich näher zu kommen, ungewöhnlich für einen Mann und eine Frau. Wir führten intime Gespräche. Am Telefon war es nicht schwierig, ihn besser kennen zu lernen. Gould wird oft als körperloses Genie dargestellt. Zum einen ist dies wahr, zum andern ist es bullshit. Er war ein attraktiver Mann. Aber ich glaube, er fühlte sich körperlich nie sehr wohl. Ich denke, diesen Teil schnitt er … riegelte er ab. Ich weiß nicht, ob er das immer tat.«

Wer war Glenn Gould? Die Frage versuchten schon viele zu beantworten, und jeder kam zu einem anderen Ergebnis. Das hängt einerseits mit seinem Rückzug in die Anonymität von Hotels, Aufnahmestudios und Imbissbuden zusammen - der Truck-Stop am Highway 400 bei Toronto, so wissen Spurensucher zu berichten, war sein Lieblingslokal, das er mitten in der Nacht im Auto aufzusuchen pflegte. Andererseits hatte er einen Hang zu Spiel und Verkleidung: Er lief auch im Sommer stets mit Mantel, Schal und Handschuhen herum, schrieb Artikel unter bizarren Pseudonymen wie Dr. Herbert von Hochmeister, Prof. Dr. Karlheinz Heinkel oder Dr. med. S. F. Lemming und machte Selbstinterviews in der dritten Person.

»Der letzte Puritaner«

Eine der wenigen verlässlichen Tatsachen über die Person Glenn Gould ist seine Verwurzelung im leicht provinziellen Milieu seiner Heimatstadt Toronto. Als »Gewohnheitsmensch von fast sklavischem Ausmaß«, wie ihn sein Musikerfreund Yehudi Menuhin charakterisierte, hat er sich der Stadt und ihrer Mentalität bis zu seinem Tod verbunden gefühlt. Gould selbst beschrieb dieses Milieu mit gewohnt kühler, aber keineswegs liebloser Objektivität, der eine Prise Ironie beigemischt ist.

»Als ich ein Kind war, und bis vor kurzem noch, wurde von der Stadt als von ›Toronto the Good‹ gesprochen. Das bezog sich auf die puritanischen Traditionen der Stadt: Bis zu den sechziger Jahren konnte man beispielsweise sonntags keine Konzerte besuchen; bis vor kurzem war an Wochenenden in Gaststätten der Alkoholausschank untersagt; und nun ist es im Rathaus zu Auseinandersetzungen darüber gekommen, ob die Torontoer bei Baseballspielen Bier trinken dürfen.

Man muss freilich wissen, dass ich als antiathletischer, keine Konzerte besuchender Abstinenzler alle derartigen Beschränkungen gut heiße. Ich bin vielleicht eher wie der Held aus George Santayanas berühmtem Roman »Der letzte Puritaner«. Deshalb fand ich immer, dass ›Toronto the Good‹ ein ganz schöner Beiname sei. Andererseits haben sich viele meiner Mitbürger sehr darüber geärgert und zu beweisen versucht, dass wie genau so übel sein können wie irgendeine andere Stadt.«


Glenn Gould, der letzte Puritaner

Doch auch hier wieder sagt er das nicht unmittelbar von sich selbst, sondern nur im Vergleich mit einem so bezeichneten Romanhelden. Der beiläufige Hinweis könnte aber ein Schlüssel sein für ein besseres Verständnis der kulturellen Dimension des Puritanismus, zu dem sich Gould hier bekennt. George Santayana, spanischer Schriftsteller und Professor an der Harvard University, schildert in seinem 1935 entstandenen Bildungsroman Der letzte Puritaner den moralischen Niedergang des amerikanischen Ostküsten-Puritanismus und die Verlagerung des geistig-kulturellen Zentrums Amerikas vom puritanischen Boston ins multinationale, modernistische New York. Romanheld ist Oliver Alden, letzter Abkömmling einer führenden puritanischen Familie.

»In Oliver, einem durchaus poetischen Temperament, allegorisiert Santayana das lange Sterben eines einstmals stolzen, aber eigentlich bereits unbeweglich und unfruchtbar gewordenen Amerika, das angesichts der heraufdämmernden Moderne nicht nur unfähig ist, sich der multikulturellen, moralisch-ethisch eklektischen und naiv-oberflächlichen Gegenwartswelt anzupassen, sondern dem auch der Wille dazu und das Interesse daran fehlt. Santayana beschreibt den Verfall der Familie Alden in den Lehr- und Wanderjahren eines Zuspätgekommenen, dessen Erbe vom Puritanismus seiner Väter und durch eine germanophile Erziehung fremdbestimmt ist, die ihn nicht auf die soziokulturellen Verwerfungen der Jahrhundertwende vorbereiten können.« (Kindlers Literatur- lexikon)

Aus dieser Beschreibung von Santayanas Roman kann man Charakterzüge von Glenn Gould herauslesen. Die Romanprobleme der Jahrhundertwende lassen sich in den Grundzügen ohne weiteres auf die Probleme um die Jahrhundertmitte übertragen: Der Konflikt des Künstlers Glenn Gould zwischen den puritanischen Idealen und den kulturellen Umwälzungen der Nachkriegszeit. Der auf die Reinheit der musikalischen Struktur eingeschworene Virtuose, der sich vom Zirkusgehabe des internationalen Konzertbetriebs angewidert fühlt. Der zu spät Gekommene, der versucht, seine künstlerische Identität aus den Gesetzmäßigkeiten der polyphonen Musik Johann Sebastian Bachs zu rekonstruieren, eines deutschen Komponisten des frühen 18. Jahrhunderts. Ein konservativer Rebell, der vom sensationsgierigen Publikum irrtümlicherweise als Traditionsfeind und Bilderstürmer angesehen wird.

Biografische Fakten und Legenden

Der Puritanismus, zu dem sich Glenn Gould mehr oder weniger offen bekannte, wurde ihm oft als interpretatorischer Mangel vorgeworfen. Ansonsten gibt es wenig feste Anhaltspunkte zu seinem inneren Leben: Vermutungen, Spekulationen, Kolportage. Deshalb hier einige nackte biografische Tatsachen bis zu dem Zeitpunkt, als er sich vom Konzertsaal zurückzog – ein leeres Gerüst, um das herum sich die Erzählungen und Fantasien ranken.

Glenn Herbert Gould, geboren am 25. September 1932 in einem kleinbürgerlichen Einfamilienhausviertel am Rande von Toronto. Goulds Vater, ein Pelzhändler, ist Methodist, seine Mutter, Gesangslehrerin, Presbyterianerin.

Mit drei Jahren erste Klavierstunden bei seiner Mutter, mit sechs begleitet er auf der Orgel ein Gesangsduett seiner Eltern. Gelegentliche Auftritte als Chorbegleiter an der Orgel der nahe gelegenen Presbyterianerkirche.

Mit acht Jahren wird er am Konservatorium von Toronto geprüft und erhält die Höchstnote. In der Schule erlebt er, wie ein schwächlicher Kollege verspottet wird. Aus Angst, selbst einmal so behandelt zu werden, schluckt er einige Brausetabletten – der harmlose Anfang seiner lebenslangen Tablettensucht, der er mit fünfzig zum Opfer fallen wird.

1942 Beginn des Orgelunterrichts, ein Jahr später gewinnt er einen Klavierwettbewerb.

1947, mit fünfzehn Jahren, erstes öffentliches Solorezital in Toronto mit Werken von Scarlatti, Beethoven, Couperin, Chopin, Liszt und Mendelssohn.

1948 wird er von einer Zeitung als »der größte Pianist Kanadas« bezeichnet.

1950, Gould ist achtzehn Jahre alt, bringt ihm sein Klavierlehrer Alberto Guerrero die Musik Arnold Schönbergs nahe. Er schreibt eine Sonate im Stil dieses Komponisten. Schönberg und seine Musik werden für ihn zu einem der wichtigsten Bezugspunkte in der Musik des 20. Jahrhunderts. Erste Aufnahmen beim Kanadischen Rundfunk, in dessen Studios er sich bald heimisch fühlen sollte.

1952 zieht sich Gould für fast drei Jahre zurück. Er hält sich vorwiegend im Wochenendhaus seiner Eltern auf dem Land auf, wo er unablässig übt.

1955 erste Auftritte in den USA: am 2. Januar in Washington, am 11. Januar in New York. Das New Yorker Debut, bei dem er Bach, Sweelinck, Webern, Gibbons und Berg spielt, wird zum gefeierten Durchbruch. Der Dreiundzwanzigjährige erhält auf der Stelle einen Exklusivvertrag bei der Schallplattenfirma CBS.

1957 als erster nordamerikanischer Pianist in der Sowjetunion. In Moskau spielt er unter anderem Musik der Wiener Schule und verursacht damit einen Skandal.

1958 verletzt sich bei einem Konzertauftritt am Finger, was seine hypochondrischen Tendenzen verstärkt. Beginn einer allgemeinen Krise. Der Tourneebetrieb setzt ihm zu. Er ist sechsundzwanzig und spricht davon, mit dreißig das Spielen aufzugeben.

1962 Gould ist dreißig. Auf einem Höhepunkt der Karriere gibt er den baldigen Rückzug aus dem Konzertsaal bekannt, den er als Symbol des musikalischen Krämergeistes bezeichnet. Sein letztes Konzert gibt er am 10. April 1064 in Los Angeles mit Bach, Hindemith und Beethovens op. 109.

In einem Interview mit John McClure sagt Glenn Gould 1968 auf die Frage, warum er sich vom Konzertsaal zurück gezogen habe, das Leben eines Konzertpianisten sei scheußlich, eine tote Angelegenheit, und er habe acht, neun unerfreuliche Jahre damit zugebracht. Vielleicht wäre es ja nötig, um ein Käuferpublikum für die Schallplatten zu schaffen. Aber eine Rückkehr aufs Podium wäre für ihn pure Regression.

Um die äußeren biografischen Fakten herum bildeten sich schon zu Goulds Lebzeiten Legenden. Sie machten sich vor allem fest an den Details seiner Erscheinung: Akzidenzien, die zu Wesensmerkmalen hochstilisiert wurden. Der bleiche Sonderling in Mantel, Schal und Handschuhen. Der Sensible, der seinen Klavierstuhl mit den abgesägten Beinen und drehbaren Rollen, den ihm sein Vater in jungen Jahren gebastelt hatte, sein Leben lang zu allen Konzerten und Aufnahmesitzungen mitnahm. Der bei besonders intensiven Stellen herzbewegend mitsummte - eine Unart, die er, wie er sagte, am liebsten abstellen möchte, aber er fürchte, die Qualität seines Spiels würde dann leiden.

Doch da war auch der andere, wirkliche Glenn Gould, der hinter all den exzentrischen Details, die er als Maske vor sich her trug, hervorlugte: Der menschenscheue Einzelgänger, der sich in seinem Hotelzimmer verkroch, tagsüber schlief und nachts arbeitete. Der bewunderte und umstrittene Künstler, der eine singuläre pianistische Begabung mit einem hell wachen, kritischen Intellekt verband. Der brillante Analytiker und Essayist. Der Unangepasste, der sich über Beethovens Appassionata mokierte und das pianistische Repertoire immer wieder nach Seltenheiten abklopfte, der die Klavierstücke von Sibelius mehr schätzte als die von Chopin und für den Richard Strauss der bedeutendste Komponist des 20. Jahrhunderts war. Dessen Klaviersonate in h-moll op.5, ein Frühwerk aus dem Jahr 1881, bannte Gould in einer beispielhaften Weise auf Platte.

Profitcenter Gould

Nach seinem Tod am 4. Oktober 1982 wird Glenn Gould vollends zum Mythos, sein Name zum Logo eines kulturellen Profit Centers, an dem zahllose Medienbetriebe, Juristen, Manager, Journalisten, Archivare, Geschichtenerzähler und Erinnerungshändler Gewinn bringend partizipieren. Ein Paradox stellt sich ein: Der Habitus des Außenseiters und Publikumverächters zu Lebzeiten verwandelt sich posthum, unter den Gesetzen der Medien, in eine publikumswirksame Marotte, die der Medienkarriere erst die richtige Würze verleiht. Aber Tote können sich gegen ihre Nachwelt bekanntlich nicht wehren. In Kanada werden angeblich so viele Platten von ihm verkauft wie es nur noch nach dem Tod von Elvis Presley der Fall war.

1983 erwirbt die Kanadische Nationalbibliothek den Glenn Gould Nachlass, bestehend aus 226 Schachteln voller Schriften, Dokumente, Briefe, Tagebücher, Tonbänder, Zeitungsartikel samt dem Steinway-Flügel und dem im Lauf der Jahre zur Ruine gewordenen Klavierstuhl.

Im gleichen Jahr findet in New York eine Glenn Gould Film-Retrospektive statt, bei der die Besucher um zwei Häuserblocks herum Schlange stehen. Eine Glenn Gould Foundation wird gegründet, die die Rechte an seinem Namen und an den Aufnahmen aus Schallplatten, Radio und Fernsehen verwaltet.

1984 erscheinen in New York unter dem Titel »The Glenn Gould Reader« zwei Bände der Schriften, die kurz darauf unter anderem auch ins Deutsche übersetzt werden. 1986 tourt eine Glenn Gould-Ausstellung durch West- und Osteuropa.

1987 wird erstmals ein »Glenn Gould Prize« für besondere kulturelle Verdienste vergeben.

1988 strahlt das französische Fernsehen in 23 Folgen die Musikfilme aus, die der Regisseur Bruno Monsaingeon mit Gould gedreht hat. In Holland und Japan werden Glenn Gould Societies gegründet, Ehrenmitglieder der holländischen sind Leonard Bernstein und Ivo Pogorelitch.

1989 erscheint die offizielle Biografie, schöngefärbt und apologetisch.

Zum zehnten Todestag 1992 bringt die kanadische Post eine Glenn Gould Sondermarke heraus. Im gleichen Jahr beginnt die Firma Sony, die in den achtziger Jahren Goulds Exklusivlabel CBS übernommen hat, mit ihrer Glenn Gould Edition.

Zum zwanzigsten Todestag im Jahr 2002 liegt eine Auswahl seiner Langspielplatten-Aufnahmen im CD-Format vor.

Abseits vom Standardrepertoire

Unter seinen Aufnahmen mit Klaviermusik der Wiener Schule befindet sich auch die frühe Aufnahme vom Juli 1958 mit der Sonate op. 1 von Alban Berg, komponiert 1908. Eine melancholische, von Trauer erfüllte Interpretation ohne alle jugendstilhafte Schwelgerei. Die dichte, akkordische Polyphonie des Mittelteils spielt Gould auf seine charakteristisch Art schlank und frei von Pathos. Glenn Gould war der erste junge Pianist der Nachkriegszeit, der sich im Konzertsaal rückhaltlos für die Musik der Wiener Schule einsetzte. Dem pianistischen Unternehmen verlieh er theoretisch Nachdruck durch seine luziden Aufsätze, die er über Schönberg, Berg, Krenek und andere Zwölftöner veröffentlichte. Darin verteidigte er – auch hier wieder ganz eigenwillig in seinem Urteil – die frühe Zwölftonmusik Schönbergs mit ihrem Rückgriff auf barocke Formmodelle, die Suite für Klavier, die Serenade und das Bläserquintett, als die geglücktesten Werke des Komponisten.

Wie sehr er sich für die Randgebiete des Mainstream-Konzertrepertoires stark machte und dabei viele unbekannte Schätze ins Bewusstsein hob, zeigt auch sein Faible für die Musik der englischen Virginalisten wie William Byrd und Orlando Gibbons. An Gibbons schätzte Gould den introspektiven Gestus und stellte ihn als Klavierkomponisten in eine Reihe mit Scarlatti, Chopin und Skrjabin. Die Kehrseite von Glenn Goulds Vorliebe für die vorklassischen und spät- bzw. nachromantischen Komponisten war sein zwiespältiges Verhältnis zu den Klassikern Mozart und Beethoven, besonders zu ihren Standardwerken. Bei Beethoven waren das für ihn die Sonaten der mittleren Periode wie die Appassionata mit ihren architektonisch ausladenden Formen. Seine Interpretation klingt so, als wollte er den Nachweis für die Richtigkeit seines abwertenden Urteils erbringen. Aus ihr lässt sich fast ein Hang zur Karikatur heraushören.

Glenn Goulds Interpretation der Appassionata ist Klang gewordene Idiosynkrasie gegen heroische Gesten, und seien sie auch gebrochen, und gegen jegliches Auftrumpfen eines selbstherrlichen Egos. Er, der körperlich schmächtige, leicht verletzliche Antiheros hat derlei immer verabscheut. Bachs Musik, das wusste er, ist frei davon. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist das Bild, das Gould von Gustav Mahler hatte. Der machtbewusste Komponist, Dirigent und Hofoperndirektor musste ihm als leibhaftiger Antityp erscheinen. In seiner Rezension der Mahler-Biografie von Henri de la Grange, die er mit Datenbank über den Aufsteiger Mahler betitelte, zeichnet er denn auch ein extrem unsympathisches Bild:

Die Menge der Daten, die La Grange anführt, deutet darauf hin, dass, ungeachtet seines Feierns der Freuden des Ländlichen, seiner tolkienesken Neigung zu einer von Nymphen und Gnomen bevölkerten Poesie, Gustav Mahler ein recht fieser Mann war – erbarmungslos opportunistisch, munter gleichgültig gegen die Zerbrechlichkeit irgendeines andern Ichs als des seinen. Mahlers erste vierzig Jahre dokumentieren die erschreckende Fallgeschichte eines sozialen Aufstiegs im mitteleuropäischen Stil. Von Laibach über Kassel, Prag, Leipzig, Budapest und Hamburg verfolgen wir Mahlers zielstrebigen Weg, bis mit seiner Berufung auf das prestigeträchtigste Podium Europas – die Leitung der Wiener Oper – seine Karriere auf dem Kontinent ihren Gipfel erreicht. Während dieses Abschnitts (und trotz der vielen Anstellungen hat Mahler für das Rennen von Laibach nach Wien in gerade fünfzehn Jahre gebraucht) legen seine Briefe, Postkarten und aufgezeichneten Bemerkungen im Café Zeugnis davon ab, wie Mahler ununterbrochen seine Kollegen im Interesse seiner eigenen Karriere manipulierte.

Gould, der seine eigene, glänzende Konzertkarriere an den Nagel hing und eine mönchische Existenz wählte, musste sich durch einen Künstlertyp, wie ihn Mahler repräsentierte, gehörig provoziert fühlen, was sich denn auch ausdrückt im Ausruf, in dem sein Portrait kulminiert:

Doch genug – der Mann war ein Monster! Der Medienkünstler

Glenn Gould, der Pianist, der Autor, der Kulturkritiker. Er hat für alle erreichbaren Medien produziert: von der Schallplatte über Rundfunk, Fernsehen und Film bis zur Zeitschrift und zum Buch. Ein Multitalent mit genialischen Zügen, vor allem wenn es ums Klavierspiel ging. Seine Aufsätze zur Musik und zum Musikbetrieb sind ebenso erhellend wie witzig zu lesen. In seinen Analysen, Reflexionen und manchmal bizarren Subjektivismen manifestiert sich ein bemerkenswert unabhängiges Denken, das die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen macht. Für den Film arbeitete Gould nicht nur als Interpret, sondern auch als Komponist, für den Rundfunk auch als Autor und Produzent von Features und Hörspielen. Es sind Wort-Musik-Sendungen, in denen Wortinformation und künstlerische Gestaltung ein Gleichgewicht bilden. Wo er es von der Idee her notwendig findet, opfert Gould die Textverständlichkeit einer polyphonen Überlagerung von Sprach- und Musikschichten; er greift damit Ideen der musikalischen Avantgarde auf, wie sie unter anderem im Umfeld von John Cage entwickelt worden sind. Diese Schichten unterwirft er aber einer strengen Gestaltung nach den Modellen von Fuge, Triosonate oder Invention. Gould prägte dafür den Begriff »kontrapunktisches Radio«:

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass man im Radio jedes einzelne Wort verstehen muss. Man hebt gerade so viele Schlüsselwörter im (…) Satz des Gegenthemas hervor, wenn Sie so wollen, dass die Hörer wissen, dass diese Stimme immer noch spricht, aber das erlaubt ihnen trotzdem, sich auf die erste Stimme oder die ersten Stimmen zu konzentrieren und die anderen als eine Art von basso continuo zu behandeln.
Wir haben eine lange und großartige Rundfunktradition, aber in dieser Tradition war alles im Radio immer sehr, sehr linear. Erst sprach die eine Person, dann kam die nächste, und manchmal unterbrachen sie sich mit einem ›und‹ oder einem ›aber‹. Es haben nie zwei Leute gleichzeitig gesprochen; das machte keinen Sinn. Ich bin in dieser besonderen Tradition groß geworden und hatte ungeheuren Spaß an ihren Produkten. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, es gebe eine musikalische Dimension im gesprochenen Wort, die völlig ignoriert wurde.«


Ein anderes charakteristisches Merkmal von Glenn Goulds Radiotechnik sind die assoziativen Sprünge von einem Sprechort, von einem Musikstil in den andern. Das schafft überraschende Querbezüge zwischen scheinbar Unvereinbarem und verrät die Handschrift des eigenwilligen Klavierinterpreten auch im Umgang mit montiertem Klangmaterial. So in seinem Radioportrait über den großen Cellisten Pablo Casals. An einer bestimmten Stelle erscheint neben Casals’ Hausgott Bach und Beethovens Achter plötzlich Terry Riley mit seiner minimalistischen Komposition In C. Auf der Sprachebene hört man dazu der Reihe nach Glenn Goulds Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Politik im Dritten Reich, dann den Geiger Felix Galamir mit einer Äußerung über Casals, und zum Schluss Casals selbst mit einer kritischen Reflexion über den Zwang zum Neuen in der neuen Musik.

Entsprechend der weit gefächerten Tätigkeit Glenn Goulds ist die Literatur, überhaupt die Medienproduktion über ihn, unübersehbar groß. Alles, was über ihn gesagt werden kann, scheint gesagt, und in Thomas Bernhards Buch Der Untergeher ist er sogar als Romanfigur verewigt. Sein Klavierstil und seine eigenwilligen Interpretationen sind von allen Seiten beleuchtet, seine Marotten und Neurosen hundertfach breitgetreten worden. Die Unterschiede zwischen der ersten Aufnahme der Goldberg-Variationen, mit der er 1952 seine Schallplattenkarriere begann, und der zweiten, mit der er sein Leben beschloss, haben Heerscharen von Kommentatoren bis ins Detail herausgearbeitet. Weshalb die erste kühner und die zweite reifer ist, dass die erste auf einem brillanten Steinway und die zweite auf einem weniger brillanten Yamaha-Flügel entstand, gehört inzwischen zum Grundwissen des Klassikhörers.

Essayistischer Komponist

Weniger bekannt ist der Komponist Glenn Gould. Einige seiner Stücke sind auf Schallplatte erschienen, so auch die Vokalkomposition So you want to write a fugue?, eine Anweisung, wie eine Fuge zu schreiben ist, mitgeteilt in der Form einer Fuge. Mit dem Witz des Connaisseurs hat er hier seine Leidenschaft für die elaborierteste kontrapunktische Form in einen musikalischen Kommentar umgemünzt, der mit der Dialektik von Form und Inhalt auf virtuose Weise spielt.

Glenn Gould hat zahlreiche Kompositionen geschrieben, doch keine hat als Werk so richtig überzeugt und Eingang in irgend ein Repertoire gefunden. Manche sind nicht zu Ende geführt. Sie wirken eher wie Essays über jene Art von Musik, die ihn faszinierte, und die er statt mit Worten mit Noten niederschrieb. Es scheint, dass seine kritisch-reflektierende Intelligenz seinem kompositorischen Ausdrucksbedürfnis im Weg stand.

Ist das Thema Glenn Gould, vierundzwanzig Jahre nach dem Tod des Künstlers, erschöpft? Ist sein Erbe katalogisierbar geworden wie der Bestand eines historischen Archivs, bilanzierbar wie ein abgeschlossenes Geschäft? Wohl kaum. Zu suggestiv wirken die Bilder und Töne, die uns der Medienkünstler von sich und der Musik, die er spielte, hinterlassen hat, als dass das alles schon abgegolten wäre.

Ästhetik des Tonstudios

Man gewinnt im Gegenteil den Eindruck, dass seine Hinterlassenschaft, gerade weil sie auf so authentische Weise aufs technische Medium hin konzipiert wurde, ihre Aktualität erst heute richtig findet. Nie zuvor war das allgemeine Hörbewusstsein so stark durch den Lautsprecher geprägt wie heute, und für diese Hörsituation setzte Gould neue künstlerische Standards. Auch theoretisch setzte er sich mit den tief greifenden Veränderungen in der Musikwahrnehmung auseinander. In seinem hellsichtigen Aufsatz Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung stellte er 1966 fest:

»Musik ist zu einem unser Leben durchdringenden Einfluss geworden, und in dem Maße, in dem unsere Abhängigkeit von ihr gewachsen ist, hat unsere Verehrung für sie in gewissem Sinn abgenommen. Vor zwei Generationen liebten es die Konzertbesucher, dass ihre gelegentliche Erfahrung von Musik mit akustischem Prunk umgeben war, höhlenartig widerhallend wenn möglich, und Pionierversuche mit Tonaufnahmen suchten den kathedralenhaften Klang nachzuahmen, den die Architekten jener Tage sich bemühten, für den Konzertsaal einzufangen – die Kathedrale der Sinfonie. Die intimeren Bedingungen unserer Erfahrungen mit Tonaufnahmen haben uns seither eine Akustik mit direkter und unvoreingenommener Präsenz nahe gebracht, mit welcher wir zu Hause recht unbefangen leben können.«

Glenn Gould war der Prototyp eines neuen Interpreten, der seine manuellen und kognitiven Fähigkeiten mit der Kontrolle der neuen technischen Medien verband. Interpretation bedeutete für ihn nicht mehr bloß die richtige Wiedergabe des Notentextes, eine Tonaufnahme war für ihn nicht einfach eine quasi fotografische Abbildung des konzertanten Aktes. Interpretation verstand er als ein Gesamtkonzept, in dem Interpret und Aufzeichnungsapparat gleichwertig sind. Das künstlerische Subjekt hat damit nicht abgedankt. Im Gegenteil, Sensibilität und kritischer Verstand sind nun mehr gefragt als zuvor.

Es ist fraglich, ob die Nachwelt, die sich so gierig auf seine künstlerische Hinterlassenschaft gestürzt hat und sie nun nach allen Regeln der Kommerzes ausschlachtet, diesen Aspekt angemessen zur Kenntnis nimmt. Vielleicht war Glenn Gould gut beraten, dass er sein Erbe den Nachlassverwaltern entzog. Er vermachte es zu gleichen Teilen der Heilsarmee und einem Tierheim.


Dieser Text - naturgemäß ohne Bildmaterial - basiert auf einem Porträt Glenn Goulds, das am 26.9.2002 im WDR Köln gesendet wurde.

Folgende Quellen wurden u.a. benutzt:
Glenn Gould: Von Bach bis Boulez, München 1986 · ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, München 1987 · Zeitschrift »du«, Themenheft Glenn Gould, 1989 · LP CBS 79358 (Interview mit John McClure).

www.beckmesser.de/interpreten/gould.html
© 2002 Max Nyffeler


1 Comments:

Blogger  said...

ich muss hier einfach mal ein ganz großes kompliment aussprechen. höchst gelungene, sehr informative, wunderbar gestaltete seite. danke!

01:11  

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